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Aus dem Leben von Otto Reutter

Die Welt, aus der er kam – Familie Pfützenreuter

Auf dem großen, wunderschönen Friedhof der unbedeutenden Kleinstadt Gardelegen in der Altmark ist das auffallendste Grabdenkmal einem Otto Reutter gewidmet. Er ist sichtbar der reichste, der bedeutendste Tote auf diesem Friedhof. Hier liegt seit 1932 Otto Reutter begraben. Aber ein Otto Reutter ist niemals geboren worden. Diesen Mann, dem hier seine allerletzte Ruhestätte bereitet wurde, hat die trauernde Witwe unter seinem Künstlernamen beerdigen lassen. Otto Reutter ist der letzte Bühnenname, die Bühnenfigur eines Mannes gewesen, der am 24. April 1870 als Friedrich August Otto Pfützenreuter in der Altmark im Haus seiner Großeltern in der Sandstraße in Gardelegen das Licht der Welt erblickte, als erstes Kind von Andreas Pfützenreutter und dessen Ehefrau Emilie, geborene Schulze, angenommene Fischer. Diese bestimmte sein ganzes Leben, von der Wiege bis zur Bahre. Genauer gesagt: Die Lebenswelt seiner Eltern bestimmte sein ganzes Leben und Trachten. Und das hieß, sobald er denken konnte: Bloß das nicht! Nur nicht so leben müssen! Weg davon! Und nie mehr zurück! Es gab keinen geborenen Otto Reutter. Der Kleinstädter Friedrich August Otto Pfützenreuter musste ihn irgendwann erfinden. Als Bühnenfigur, für die Bühnenwelt, fürs Rampenlicht glückte ihm das sehr gut, seine Darstellung überzeugte. Und abseits der Bühne? Das war lebenslang sein Problem. Friedrich August Otto Pfützenreuter ist mit Otto Reutter nie fertig geworden. Der junge Pfützenreuter wurde als Kind armer Leute geboren, denen das Leben schon einige schwere Schicksalsschläge versetzt hatte. In einem 1906 zur Veröffentlichung gedachten gereimten Lebenslauf ließ sich Otto Reutter später zu der Einschätzung hinreißen, er habe eine "hässliche, grässliche Jugend" durchlitten. Seine Mutter Emilie war die uneheliche Tochter einer Dienstmagd und Köchin. Die Köchin heiratete einen aus Sachsen zugewanderten Tischlergesellen, Friedrich Fischer, der in seinem erlernten Beruf in Gardelegen keine Arbeit fand, als kleiner Knopffabrikant sehr schnell schuldenreich scheiterte und schließlich froh sein musste, durch seine Frau, Emilies Mutter, in einer Handwerkerstraße eine kleine Speisewirtschaft mit Bierausschank für Lohnkutscher, Fuhrleute, Handwerksgesellen und Reisende betreiben zu können. Zur Sicherung des Lebensunterhalts kam noch ein kleines Materialgeschäft hinzu. Emilie Fischer arbeitete nach Beendigung der Volksschule für Mädchen in der stiefväterlichen Gastwirtschaft mit und wartete auf einen Bräutigam, der ihr weiteres Schicksal bestimmen sollte. Als Erbin der Gastwirtschaft kam sie nicht in Betracht, dafür stand ihr viel jüngerer Halbbruder Karl Fischer von Anfang an fest.

Andreas Pfützenreuter stammte aus Breitenbach im Eichsfeld, wo sein Vater Friedrich Pfützenreuter einen großen, gut gehenden Dorfladen besaß. Die Gastwirtstochter Emilie Fischer hatte ihren Bräutigam dem preußischen König Wilhelm I. zu verdanken. Dieser ließ Mitte der 1860er-Jahre drei neue Ulanen-Regimete aufstellen, wovon eines in der Altmark - in Salzwedel und Gardelegen - stationiert werden sollte. Da Wilhelm I. bereits über einige Ulanen-Regimente verfügte, ließ er das neue, das Ulanen-Regimen Nr. 16, zunächst aus abzugebenden Soldaten anderer Regimenter zusammensetzen. So fand sich denn auch der Breitenbacher Andreas Pfützenreuter, junger Rekrut im "UR 6" in Mühlhausen/ Thüringen, unversehens im "UR 16" in Gardelegen/Altmark wieder. In seine dreijährige Dienstzeit fiel der Deutsche Krieg 1866, aus dem er mit heilen Knochen nach Gardelegen zurückkehrte. Die Rekruten lebten in Gardelegen nicht in einer Kaserne, sondern in Bürgerquartieren. Möglicherweise fand der schneidige Ulan Pfützenreuter mit dem kecken ondulierten Schnurrbart so den Kontakt zu Emilie Fischer, vielleicht fiel sie ihm eines Abends beim Bierausschank in der Gaststube Fischer auf. Emilie war bereits als junge Frau auffallend kränklich. Sie litt unter stark wechselnden Stimmungen, war mal überschäumend gut gelaunt, begeisternd fantasievoll, witzig, schlagfertig, und dann wieder erschreckend trübsinnig. "Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt..." - so charakterisierte der berühmte Otto Reutter später rückblickend auch sein anfängliches Künstlerschicksal. Solch Gefühlsschwankungen hatte er bereits in seiner Kindheit durch die Krankheitsgeschichte der Mutter miterlebt. Vielleicht war es nicht nur die Krankheit seiner Mutter, denn später bemerkte er zweideutig, dass er "nach der Mutter schlug".

Nach Beendigung seiner Dienstzeit in Gardelegen bei "unseren blauen Ulanen" (wegen der hellblauen Uniformjacken) führte Andreas Pfützenreuter seine Braut Emilie Fischer, geborene Schulze, vor den Traualtar der improvisierten katholischen Kirchstube von Gardelegen. Eine katholische Kirche gab es hier seinerzeit nicht, der Ort war evangelisch, die zugewanderten Fischers waren es auch. Aber Andreas Pfützenreuter stammte aus dem katholischen Eichsfeld und bestimmte nun als Familienoberhaupt: meine Familie wird katholisch! Am 24. April 1870 ward dem jungen Paar das erste Kind geboren. Dessen beide Großväter trugen den Rufnamen Friedrich, so also auch der Enkel: Friedrich August Otto Pfützenreuter. Das Kind wurde im Haus des Großvaters Friedrich Fischer geboren. Dessen leiblichen Sohn, Karl Fischer, der Alleinerbe, war gerade elf Jahre alt geworden. Dieser Onkel sollte im gesamten Leben Otto Reutters eine wichtige Rolle spielen. Auffallend ist, dass Andreas Pfützenreuter seine Ehefrau nicht wahrlich "heimführte", ins heimatliche Eichsfeld. Von dort hat er wohl nichts zu erwarten. Warum, blieb ungesagt. Die jungen Eltern mussten sich irgendwie durchschlagen. Andreas Pfützenreuter sah seinen Platz in der Welt als Lohnkutscher, als fahrenden Handelsmann, mit Pferd und Wagen übers flache Land. Von hier nach sonst wohin, zumeist in die nördliche Mark Brandenburg, weit weg von Gardelegen in der Altmark. Bei Wind und Wetter, mit Pferd und Wagen übers Kopfsteinpflaster - so rackerte er sich jahraus, jahrein durch einen schweren Arbeitsalltag mit wenig Pläsier und geringem Ertrag.

Daheim in Gardelegen wartete eine immer kränklicher und unleidlicher werdende Ehefrau, abgearbeitet, geschwächt, oft schwanger, um sich eine wachsende Schar kleiner Kinder. Und es blickte ihn sein Erstgeborener an - überdurchschnittlich intelligent und agil -, der hellwach all die Plagen und Plackereien, die Malaisen dieser kleinen Leute, die seine Eltern, seine Großeltern, seine Familie waren, miterlebte und daran litt. All dies wurde dem Erstgeborenen der Familie schon sehr früh eine Lehre fürs ganz Leben, eine Warnung, die er niemals - aber auch wirklich niemals - außer Acht ließ. So wollte er sein Leben nicht verbringen müssen, so mühselig, so dumpf, so ereignislos, so freudlos, so arm. Wenige Monate nach der Geburt seines Stammhalters musste der Ulan erneut in den Krieg ziehen. Von wegen "Reserve hat Ruh!". Seine junge Frau durchlitt tausend Ängste, doch Andreas Pfützenreuter überlebte sogar den "Todesritt von mars-la-Tour", eine besonders verlust- also "ruhmreiche" Schlacht des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871. Er überstand somit zwei Kriege unbeschadet. Ein Glück, das sein Enkel Otto 1916 und Hans 1939 nicht haben sollten - beide starben bereits wenige Tage nach Ankunft an der Front.

Der 1871 undekoriert, aber heil zurückgekehrte Andreas Pfützenreuter war in Gardelegen mehr Gast als zu Hause und oft monatelang ohne weitere Nachrichten unterwegs. Mutter Emilie ("Milchen") bekam in rascher Reihenfolge ein Kind nach dem Anderen. Dem 1870 erstgeborenen Knaben folgte alsbald der Bruder Emil. Im Januar 1875 wurde dann Johann geboren, der aber bereits im November desselben Jahres starb. Friedrich August Otto und Emil hatten noch zwei überlebende Schwestern, Margarethe (Gretchen) und Elisabeth (Elli). Andreas Pfützenreuter gelang es unter großen Mühen, das Geld für den Kauf eines kleinen, bescheidenen Häuschens aufzubringen, in Nachbarschaft der Fischer´schen Speisewirtschaft. Dort wuschen die Kinder auf.

Otto Pfützenreuter

Otto Reutter hieß eigentlich Friedrich August Otto Pfützenreuter. Am Beginn seiner Bühnenkarriere verkürzte er seinen Nachnamen und nannte sich schlicht Otto Reuter. Diesen Künstlernamen machte ihm allerdings später ein anderer Reuter streitig, der ebenfalls im Kabarettgeschäft tätig war. Da es sich um seinen richtigen Familiennamen handelte, konnte dieser sich schließlich im Streit um den Namen durchsetzen. Friedrich August Pfützenreuter fügte daraufhin seinem Künstlernamen ein „t“ hinzu und nannte sich ab 1899 Otto Reutter. Entsprechend werden auch in dieser Biografie die unterschiedlichen Namensvarianten verwendet, je nachdem, ob von dem jungen Mann aus dem Ackerbürgerstädten Gardelegen, von den ersten Bühnenerfahrungen des angehenden Künstlers oder von dem erfolgreichen Humoristen und Coupletdichter, der sich an frühere Tage erinnerte, die Rede ist. Nicht zuletzt soll auf diese Weise auch Pfützenreuters Erfindung der Bühnenfigur Otto Reut(t)er nachvollziehbar werden.

Der erste Auftritt

Da dem guten Otto als Buchhandlungsgehilfe wohl ärmel- und Ellenbogenschoner, nicht aber ein seriöser Frack und ein schwarzer Zylinder zur Verfügung standen, begann schon mit der Garderobe das Problem. „Ich hatte nach langem Zureden vom Oberkellner einen alten Frack geborgt erhalten und mir in Ermangelung eines Zylinderhutes von einem anwesenden Droschkenkutscher eine ähnliche Kopfbedeckung geborgt. Leider war es ein weißer Taxameterhut, und so kam es, daß Frack und Hutfarbe in einigem Widerspruch standen. Nach irgendeiner alten Melodie begann ich nunmehr, zitternd vor Aufregung „vom Blatt“ zu singen. Den Hut, der mir viel zu groß war, trug ich behutsam auf dem Kopfe, während ich mit den Händen das Textblatt hielt. Durch eine unvorsichtige Bewegung meines Hauptes geriet plötzlich der Hut ins Schwanken, und – rutsch! Fiel mir er mir ins Gesicht herunter, erst bei meiner Nase auf erfolgreichen Widerstand stoßend.

Bei meinem zaghaften Auftreten war das Publikum etwas verstimmt gewesen, noch mehr war dies aber bei dem mich unterstützenden Klavier der Fall gewesen – jetzt aber löste sich das Grollen des Mißbehagens in einen Donner von Heiterkeit, Fluchen, Schreien und Schimpfen auf.

Der Pianist schloß mit einer schrillen Dissonanz, man warf mir Bieruntersätze an den Kopf, wollte mich von der Bühne herunterziehen, der Droschenkutscher riß mir den Kopf, wollte mich von der Bühne herunterziehen, der Droschkenkutscher riß mir den Hut herunter, der Kellner zog mir seinen Frack aus, ich wehrte mich, stampfte mit Füßen und- brach durch die Eierkiste (das war nämlich die Bühne – H.B).

Nie wieder während meines späteren Wirkens habe ich solchen Lacherfolg erzielt!“, erinnerte sich der umjubelte Reutter späterhin seines Debüts im Gasthaus „Zum Elephanten“ in Karlsruhe. ‘Aber erst einmal war der Debütant auch nervlich völlig am Boden. „Mein Direktor tröstete mich so gut er konnte, ich lachte selbst über meinen ersten `Durchfall`, legte noch dreizehn Pfennige zu den siebenundachtzig (Pfenning Gage) und gab zwei Lagen Bier um besten.“

Allerdings hatte Otto Pfützenreuters mißglückter Auftritt im „Elephanten“ noch ein bitterböses Nachspiel. Anderntags erschien in der Lokalpresse eine Rezension, die sich gewaschen hatte: Der sogenannte Humorist wurde im Interesse des weiteren Wohlergehens der Menschheit im Allgemeinen und der Schönen Künste im Besonderen dringlichst ersucht, nie wieder eine Bühne zu betreten. Die Rezension schloß mit dem vernichtenden Ratschlag: „… und da wir noch nie einen humorloseren Menschen gesehen haben, so geben wir als erfahrener Kritikus dem jungen Mann den wohlgemeinten Rat, umzukehren, sich zu bessern und – ein Sargmagazin zu eröffnen.“

Welch ein Künstlerschicksal! Bei seinem Debüt mit Bierdeckeln beworfen, durch die Bühne durchgebrochen, die Gage auch gleich an Ort an Stelle restlos versoffen – und nun auch noch diese öffentliche Hinrichtung in der Zeitung.

Übrigens: der Rezensent, der „erfahrene Kritikus“ – vielleicht interessiert das am Rande, war ein gewisser Herr Otto Pfützenreuter. „Richter“, „Henker“, und „Opfer“ in einer Person – das konnte auch nur ein Otto Reutter schaffen. Dabei half freilich der blanke Zufall. Otto hatte einen guten Freund bei der Zeitung, und den hatte sein Chefredakteur abkommandiert, über die hiesige Kunstszene ein paar launige Zeilen zu schreiben. Da der junge Herr Nachwuchsredakteur dazu wenig Neigung zeigte, und lieber anderen Grillen nachjagte, hatte Otto erboten, ihm diesen Freundschaftsdienst zu tun … und ja auch was Ordentliches darin zustande gebracht.

Wie nun würde allerdings Otto Dienstherr, der ebenso noble wie spinnerte Buchhändler auf den Eklat im „Elephanten“ reagieren? Gar nicht! Jener Herr schwebte nämlich ausschließlich in höheren Regionen Eben trug er seinem Gehilfen an, sich Shakespeares Drama „Richard III.“ mal vorzunehmen und es ordentlich zu verbessern. – Da hielt es Otto eben nicht länger aus, er stürmte aus der Buchhandlung und schloß sich spontan den „Karlsruher Volkssängern“ an.

Otto Reutter über Otto Reutter

Siebzig geboren – Vater im Kriege –

ich in der Wiege-

Mutter im Bett – schönes Terzett!



Sag´s ungeniert, hab nicht studiert,

Leider nie höhere Bildung gekannt.

Teils in ´nem Städtchen und teils auf dem Land

Zur Schule gewesen! Schreiben und Lesen

lernt ich zur Not, aber weiter nichts.

Pfeife noch heute auf den Schulunterricht.

Schlich zum Theater- Zwist mit dem Vater.

Mutter versöhnlich- wie das gewöhnlich.

Mutter verstand mich- und Mutter verzieh.

Weil ich nach ihr schlug, drum schlug sie mich nie!

Fröhlich und heiter zog ich nun weiter.

Dünkt mich als Held. Mein war die Welt.

Künstler zu werden, schien mir auf Erden

Herrliches Los, doch ich wußte nicht wie.

Glaube, ich sei ein verkanntes Genie.

Sei ein Poet – Wie sagt doch Goethe?

Himmelhoch jauchzend! Zu Tode betrübt!

So ging´s mir, als ich die Musen geliebt!

Trug in dem Herzen Dichterlingsschmerzen.

Hab mich beim Trauerspielschreiben ertappt.

Wünschte mir alles – kriegte den Dalles1

Häßliche, gräßliche Jugend gehabt!

Kopf voller Gärung, Magen Entbehrung,

Börse Entleerung – Nette Bescherung!

Die ernste Muse verließ mich alsdann

Bei der heiteren klopfte ich schüchtern an.

Jetzt schien am Ziel ich – denn jetzt gefiel ich.

Kriegte viel Geld – Komische Welt!

Nur nicht pathetisch, nur nicht poetisch!

So was gefällt nicht, das will die Welt nicht.

Leute von heute, die lachen lieber.

Und ich lach auch, doch ich weiß nicht worüber!

Bin ganz zufrieden, und hab resigniert

Mich zum Bajazzo „empordegradiert“!

Ziemlich bekannt und beliebt bin ich heute.

Das sage nicht ich, das sagen die Leute.

Hab viel ertragen in jungen Tagen.

Mühen und Plagen – Haben mich geschlagen

Durch alle Stufen des Elends weidlich! –

Heut unberufen – geht´s mir so leidlich!

Reutter und seine Kunst

Otto Reutter sang Couplets. Reutter machte das so: Er wollte das Publikum am Abend unterhalten, und zwar möglichst ohne großen materiellen Aufwand. Aber nicht auf die billigste Weise. Da er von klein auf darin geübt warm lustige Reime zu verfassen, und von klein auf damit Erfolg hatte, versuchte er es eben damit. Er erzählte keine Witze, er dichtete lustige Reime - und sang sie. Da er kein begnadeter Sänger war, mussten die Melodien zu seinen lustigen Reimen einfach und eingängig sein. Da er wollte, dass man jedes Wort verstand, musste die Melodie zum Sprechgesang geeignet sein und schon in einfachster musikalischer Begleitung glänzen. Ein Piano, auf dem sich auch ein mäßig begabter Pianist mit einfachen Melodien erfolgreich versuchen konnte, fand sich wirklich überall. Reutter konnte ja gar kein großes Orchester gebrauchen. Reutter suchte sich die Themen für seine humorigen Sprechgesang-Lieder, seine Couplets, in Alltagsgeschichten. Und weil ihm diese nicht genügten, holte er sich zunehmenden Themen aus dem aktuellen Tagesgeschehen. Was von allgemeinen Interesse war und sich pointiert kommentierend bereimen ließ, dessen nahm sich Otto Reutter an und machte ein schönes Couplet daraus. Als er 1895 begann, als Salonhumorist mit einem "Originalprogramm" auf Gastspielreise durch die deutschen Varieté-Theater zu gehen, konnte er sein Originalprogramm als Perlen des Repertoires aus fünf Jahren harter Bühnenarbeit mit den "Karlsruher Volkssängern" präsentieren. Doch solch ein Programm verschliß sich schnell. Also kam Reutter alsbald in den Zwang, sich stets im ständig neue Couplets zu schreiben, sich neue lustige Situationen auszudenken, neue Pointen zu finden.  Es begann ein auftreibender Kreislauf: Reutter reimte und vertonte neue Couplets, lernte sie auswendig, trug sie zusammen mit den alten Couplets auf der Bühne vor, reimte und vertonte neue Couplets, lernte sie auswendig, schrieb die alten Couplets teilweise um, lernte die alten auf neue Weise auswendig, trug sein neues Programm auf der Bühne vor, reimte und vertonte neue Couplets... Jetzt, als junger, frischer, unverbrauchter aufstrebender Mann regte Reutter dieser Kreislauf gehörig an. Ach, wie herrlich, auf der Bühne zu stehen, seine ureigensten Sachen vorzutragen, bejubelt zu werden, und einen großen Batzen Geld dafür zu bekommen. So hatte er sich das immer gewünscht. Reutter, einmal nach seinem ganz speziellen Erfolgsrezept befragt, wusste mit folgender Antwort zu glänzen: "Du suchst dir zunächst einen Refrain, der am Schluss einer Coupletstrophe wiederkehren muss. Zu diesem Zwecke greifst du - um mit meinem gleichfalls sehr begabten Kollegen Goethe zu reden - hinein ins volle Menschenleben, begibst dich in die Markthalle, in die Volksversammlungen oder du mengst dich in das wogende Straßengetriebe bei Massenabsperrungen, Verkehrsstörrungen und anderen festlichen Gelegenheiten. Dort hörst du eine Unmenge vulgärer Ausdrücke. "Nur nicht drängeln!", "Halt die Luft an!", "Rutsch mir ´n Buckel lang!". "Quatsch nicht, Krause!" und andere hochpoetische Redensarten strömen in dein entzücktes Ohr - und du hast nun den Refrain, das Rückrat deines Couplets, gefunden." Reutter verstand es, dem Volk "aufs Maul" zu schauen. Und er machte seine Beobachtungen zu Kunst, die jedermann gefiel. Das machte Reutter ungemein heiter doch ebenso ungeniert kassierte der Star des deutschen Varientés den irdischen Lohn seiner Mühen. Und Otto Reutters Gagen wuchsen tatsächlich ständig - schließlich langten sie in für damalige Verhältnisse wahrscheinlich astronomische Höhen an. 7500 Goldmark kassierte Otto Reutter schließlich als Monatsgage. Dazu kamen noch die üppig fließenden Tantiemen, die der Danner-Verlag in Mühlhausen an ihn zu zahlen hatte für den Abdruck der Texte und Noten seiner "Original-Couplets".

Reutters einziger Auftritt in Gardelegen

Schließlich war auch in Gardelegen von findigen Leuten bemerkt worden, dass der kleine Otto Pfützenreuter draußen in der Welt Triumphe feierte. Vater Andreas Pfützenreuter erzählte ja stolz herum, was für eine dolle Nummer sein Sohn Otto da drüber in Berlin sei, und er wäre sogar schon in Karlsruhe und Bern aufgetreten damit. Und Otto Pfützenreuter selbst? Er ließ keine Gelegenheit aus, in seine "kleine Vaterstadt" zurückzukehren, Verwandte zu besuchen und mit Bekannten durch die besten Lokale der Stadt zu ziehen. Ja, wenn Otto nach Hause, nach Gardelegen, auf Besuch kam, dann ging hier die Post ab. Er solle ja nun ein "Schweinegeld" verdienen, ein reicher Mann sei er ja jetzt, hieß es. Und Otto bewies es, indem er alle, alle freihielt. Tagsüber widmete er sich seinen Verwandten daheim, der Vater, den Schwestern, seinen Tanten und Onkels - und des Nachts den vielen alten und sich ständig mehrenden neuen Bekannten in den Kneipen. Oh, er genoss es jetzt, durch die Straßen dieser kleinen Provinzstadt zu schlendern und angestaunt und angesprochen zu werden: Er sei ja jetzt wohl ein bisschen berühmt, oder etwa nicht?! Egal, wie weit hinaus in die Welt ihn seine Engagements auch trugen - seinen Geburtstag wollte Otto Pfützenreuter daheim in Gardelegen feiern. So auch im April 1899. Und in jenem Jahr geschah es: Otto trat in Gardelegen auf. Zum allerersten - und zum allerletzten Male trat er in Gardelegen auf. Eigentlich wollte er das gar nicht. Nein, in Gardelegen wollte er damit verschont bleiben. Aber man bedrängte ihn derart, versuchte es mit allen Tricks und allen Lockungen, und schließlich ließ er sich breitschlagen, wenn denn sein Auftreten nur einem wohltätigen Zwecke nützlich sei. Am 25. April 1899 trat er zum ersten und einzigen Mal in Gardelegen auf. Das "Gesellschaftshaus Tivoli" in der heutigen Schillerstraße, da, wo jetzt eine Turnhalle steht, war damals übervoll. Alle waren gespannt, alle waren neugierig - und alle waren begeistert. Seine Gage rundete Otto auf damals höchst beachtliche eintausend Reichsmark hoch - ein Wahnsinnsgeld! und spendete sie ebenfalls für den heute nicht mehr ermittelbaren wohltätigen Zweck. Erst von nun an war Otto Pfützenreuter in Gardelegen richtig ein berühmter Mann.

Der Star und seine Nachahmer

Otto Reutters ganzer Stolz war es, von Anfang an aussschließlich mit eigenen, selbst verfassten Couplets, mit "Original-Programm", als Salonhumorist aufgetreten zu sein. Er brachte nur eigene Sachen zu Gehör. Sein Fleiß und sein Mutterwitz gestatteten ihm das, seine Berufsehre ließ ihm nichts anderes zu. Andere waren in dieser Beziehung so pingig. Otto Reutter hatte Ende des 19. Jahrhunderts einen Verlag gefunden, der ihm Noten und Verse fein säuberlich druckte und für ein, zwei Mark verkaufte. Obwohl jeder Notendruck unmißverständlich darauf hinwies, dass "Gesangs-Artisten (Damen und Herren)" diese "Scenen" nur dann öffentlich "zum Vortrag bringen" dürfen, wenn sie das Aufführungsrecht vom Verfasser erworben haben, hatte Reutters Art nicht nur viele Nachahmer, sondern hatten seine Texte und auch viele "Kopisten". Die "Kopisten" zeichneten sich durch zweierlei aus: Erstens traten sie mit Reutters Couplet auf, und zweitens traten sie das ohne seine Genehmigung. Otto Reutter hatte seine Kopisten zum Fressen gern. bei den Kopisten hörte für den Humoristen Reutter jeglicher Humor auf. Einige Zeit, Einige Zeit, als es mal besonders schlimm stand , ließ er keine Gelegenheit aus, selbst auf "Kopistenjagd" zu gehen. Besonders im sächsischen Raum schien es eine Menge davon zu geben. Überliefert ist jedenfalls, was Reutter im Jahre 1908 oder 1909 in Leipzigs Tingel-Tangel durchmachte. Er war seinerzeit in Dresden engagiert, und dort trug man ihm zu, wie viele "Reutters" jetzt allein in Leipzig auftreten würden. An einem spielfreien Tag reiste Reutter von Dresden nach Leipzig und raste. Was sich dort an Reutter-Kopisten dem Publikum darbot, schlug alle Rekorde. Im ersten Lokal präsentierte sich Herr als Reutter derzeitige Glanznummer "Der Traumdeuter". Der falsche Traumdeuter wurde zum echten Wundersprinter, als er den Original-Reutter auf die Bühne zukommen sah. Der war also schon mal nicht mehr greifbar. Aber Reutter hatte noch andere Adressen erhalten. Im nächsten Lokal trat ein "Kopist" mit seinem Programm auf und verhökerte anschließend sogar noch auf eigenen Gewinn Reutters Original-Notendrucke. Auch dem Original-Reutter bot er sie zum Kaufe an. "Sind das wirklich Ihre eigenen Texte?", erkundigte sich Reutter scheinbar harmlos, und als der Kopist bejahte, röhrte er ihn an "Ich werde Ihnen heimleuchten! Ich bin Otto Reutter!" "Ach, Du lieber Gott!", war alles, was der Kopist noch hauchen konnte, dann entfleuchte er vorsichtshalber. - Damit aber noch nicht genug des Leipziger Kopisten-Skandals. Im "Krystall-Palast", wo Reutter demnächst mit seinem neuen Programm auftreten wollte, profilierte sich an jenem Abend auch ein Kollege - und zwar mit neuestem Programm. Reutter raste wie ein heulender Derwisch hinter dem eiligst retrierenden Kollegen hinterdrein, der ihm mit einem mächtigen Schwung über einen hohen Zaun schließlich entwischte. - Reutters Wut ist nur zu gut zu verstehen. Er lebte von seiner Originalität, von seiner Einmaligkeit, und nichts konnte ihm mehr schaden, als das Dutzende Kopisten mit seinem Programm Schindluder trieben, es "abnutzen" und auf seine Kosten absahnten. Das Problem der ungebetenen Kopisten beschäftigte ihn ein Leben lang.    

Aus Reuter musste Reutter werden

1870 wurde Friedrich August Otto Pfützenreuter geboren, ab 1889 hörte der junge Mann auf den Namen Otto Reutter und startete mit etlichen Fehlversuchen, Irrungen und Wirrungen seine Laufbahn als Theaterspieler. Zehn Jahre später wurde aus dem Otto Reuter dann Otto Reutter, eine Tatsache, die er später gern unter den Tisch fallen lassen wollte, denn für ihn war es eine Nuederlage, sich so nennen zu müssen, eine Niederlage, die ihn wohl immer schwerzte. Im ersten Halbjahr 1895 hatte Otto Reutter eine gewaltige Anzeigenkampange finanziert und einem etablierten Humoristen namens Martin Reuter fiel die Ähnlichkeit der Namen unangenehm auf. Martin Reuter hieß aber nun mal Martin Reuter. Er forderte Otto Reuter daher auf, seinen doch gewiss nur erfundenen Bühnennamen schnell zu ändern, der Verwechslungsgefahr wegen. Von wegen, dachte dieser. Aber Martin Reuter gab wohl nicht nach, drohte mit Klage oder klagte ... jedenfalls gab Otto Reutter schließlich zähneknirschend nach und schickte dem anderen Reuter angeblich einen betont gehässigen Brief: " Sehr geehrter Herr Reuter! Ernstens habe ich meinen Namen, wie Sie aus der Reklame ersehen können, schon geändert.Ich schreibe mich mit zwei T. Zweitens habe ich an meiner Tagesgage zwei Nullen ..." - Angeber, stimmte gar nicht.

Wann genau aus dem Otto Reuter ein Otto Reutter wurde, ist nicht mehr feststellbar. In einem Brief aus Hannover vom Spätherbst 1898 gab er sich einem nach 15 Jahren wieder erinnerten bekannten jedenfalls noch ausdrücklich als Otto Reuter zu erkennen: "Jetzt nenne ich mir nur Otto Reuter. [...] Mir geht es sehr gut, ich verdiene im Monat mehr als ich früher im Jahr hatte." Das war und blieb typisch für ihn. "Ich verdiene ..." - von Anfang bis Ende, von Pfützenreuter bis Reutter . Er hatte seine eigene Vorstellung von Bescheidenheit und sang: "Bescheiden, bescheiden, wo immer es sei, / In jeder Beziehung, ich sage es frei, / Dass ich mich mit wenig begnüge. / Ich lauf durch die Welt, / Ich pfeif aufs Geld, / Und nehme ich mehr, als ich kriege." Und er sang: "Wenn man, wie Sie sehen heute, / Hier sein Lied herunterspricht, / Freu´n da unten sich die Leute - / Aber mir gefällt das nicht. / Jeden Abend die Blamage - / Und für so was holt man sich / Zweimal nur im Monat Gage - / Ist ja lächerlich!"

Die Zwanzig-Pfennig-Spende

Im Juli 1898 hatte die Verwandtschafts in Gardelegen Otto Reutter als angeblich inzwischen vermögenden Künstler angepriesen. Das brachte den honorigen Gardelegener Bürgermeister Julius Beck auf die Idee, den erfolgreichen Humoristen für das Kaiserdenkmal vor dem Rathaus seiner Vaterstadt einzuspannen. Es war bereits 1896 aufgestellt worden, aber es blieben noch Rechnungen zu begleichen. reuter, der als armer Junge armer Leute unbedeutend und unbeachtet in Gardelegen aufwuchs und rechtzeitig von dort fliehen konnte, wollte natürlich als schwerreicher Mann beachten und umjubelt nach Gardelegen zurückkehren. Er sah seinen Aufstieg vom unbeachteten "Hausierersöhnchen" zum berühmten Mann, den ein Bürgermeister, eine öffentliche Respektsperson, respektvoll um Hilfe und Woltätigkeit bat.

Reuter sagte also langfristig die Mitwirkung an einem Wohltätigkeitsauftritt in Gardelegen zu. Dieser fand am 25. April 1899 statt, einen Tag nach seinem in Gardelegen, als "Extra-Concert- und Vortragsabend" des Orchesters des jüdischen Gardeleger Musikschulbetreibers Siegmund Heß. Reuter, inzwischen nannte er sich Reutter, hatte speziell für diesen Abend zwei ernsthafte Lieder geschrieben: Das war ein Klang ganz eigen und Ach, wie herrlich ist das Leben. Dieser ließ er von hiesigen Musikenthusiasten singen, um sich dann selbst zur umjubelten Attraktion zu machen. Der "Solo-Schauspieler" Otto Reutter begann seinen Vortragsabend mit seinen bekannten Kostümvorträgen als "siegreicher Franzose", Sultan Abdul Hamid und John Bull zeigte eine parodistische Palästinareise und seine Interpretation von Gerhart Hauptmanns Theaterstück "Die versunkene Glocke". Seit Jahren war sein Couplet "Li Hung Tschang" zur Melodie von Fréde´ric Chopins Trauermarsch die Zugnummer seines Programms, sie löste nun auch in Gardelegen Lachstürme aus.

Reutter trat am 25. April 1899 ohne Gage auf, das Orchester Siegmund Heß ebenfalls, und Reutter rundete die Einnahmen des Abends andertags bei einem Empfang im Rathaus bei Bürgermeister Julius Beck noch gewaltig auf, auf runde 1.000 Mark. Für Gardelegen eine unvorstellbar große Summe, die er da einfach so spendierte. Später sickerte durch, dass Reutter die eingenommene Summe des gesamten Wohltätigkeitskonzerts von 999,80 Mark um genau 20 Pfenning aus eigenem Vermögen aufgerundet hatte. Ohne jede Ironie (?) jubelte die wichtigste Gardelegener Zeitung: "Wenn je eine Tat als eine hochherzige bezeichnet werden kann, so ist es wahrlich die unseres Landsmannes, des Herrn Otto Reutter".

Der Erfolgsrausch einer durchgearbeiteten Silvesternacht (1899/1900)

Es hat sich von Anfang an so und nicht anders ergeben, und Reutter hat sich in sein Schicksal gefügt: Der junge Mann wurde Reisender, ewiger Reisender, ewig ruhekis Reisender in Sachen Otto Reutter. Er bekam Angebote aus vielen Häusern, aber er wurde nie fest, nie langfristig in einem Theater engagiert, nirgendwo kam er als Hauskomiker in Betracht, Reutter erhielt nur Verträge über zwei Wichen, höchstens vier Wochen, länger nicht, und dann musste er sich trollen. Er wusste sich darauf einzustellen, strebte Re-Verträge an, verbindliche Wiederverpflichtungserklärungen, Re-Engagements, die irgendwann in der Zukunft eingelöst werden musste und ihm so Existenzsicherheit gaben. Er schraubte seine Gagenforderungen unverdrossen immer höher und versuchte andererseits, weil zwischenzeitlich teurer geworden, sich aus minderwertig gewordenen Re-Verträgen herauszuwinden. Reutter führte ein elendes, auftreibendes Vagabundenleben und ließ sich das so teuer wie irgend möglich vergüten. Zu den erstaunlichsten Merkwürdigkeiten seines Lebens als reisender Artist gehört aber, dass er dennoch als der ewige Start, der ewige Hauskomiker eines einzigen Groén Varietés in Berlin wahrgenommen wurde. Wie es dazu kam? Nun, es war die Laune einer einzigen wilden Silvesternacht.

Eigenartigerweise wurde der künstlerische Lebenslauf, die unaufhörlich ansteigende Erfolgsleiter des Humoristen Otto Reutter mit dem Namen eines großen Berliner Varietétheaters in der Friedrichstraße in Verbindung gebracht, dem "Wintergarten". Der ursprünglich als Palmensaal und Flaniergelände gedachte Anbau des "Central-Hotels" erhielt um 1887 eine neue Bestimmung. Zwei kapitalkräftige Theaterunternehmen, der Wineer Julius baron und der reich gewordene Schauspieler des "Belle-Alliance-theaters" Karl Dorn, kauften den Saal mit der eigentlich ungüstigen Akustik und machten den "Wintergarten" innerhalb weniger Spielzeiten zu einer gefragten Spielstätte für hochklassige Artistik, Dressuren und Tanznummern.

Im Jahre 1899 grassierte das "Jahrhundertfieber", der Wechsel ins 20. Jahrhundert stand an und jede Theaterdirektion suchte nach freien Attraktionen für das Silvesterprogramm in der Nacht der Nächte. Der "Wintergarten" sprach Otto Reutter an. Dieser hatte sich ja im zweiten Haus der "Wintergarten"-Besitzer, im "Apollo-Theater", bereits mehrfach bewährt. Reutter witterte seine Chance: Berlin erobern, dritter Anlauf. Natürlich, der "Wintergarten" war die Gelegenheit. Das bekannte Varietétheater auf der künstlerischen Visitenkarte zu haben, bedeutete neben Ruhm und Ehre vor allem die Aussicht auf noch besser bezahlte Engagements in den ersten Varietés des Landes, in Dresden, Leiptig, Düsseldorf, Hamburg, Breslau. 

Ind er Silvesternacht 1899/1900 begeisterte Reutter das sowieso erwartungsfroh gestimmte und beschwipste Publikum im "Wintergarten" mit den Perlen seines aktuellen Repertoires. Am Neujahrsmorgen musste zwar der Kater der durchfeierten Nacht irgendwie vertrieben werden, Reutter aber nicht, er sollte bleiben. Er habe es geschafft, er könne gleich dableiben, den ganzen Monat Januar mit Starreklame, ließ die Direktion ausrichten. Reutter setzte alles auf eine Karte, Starreklame sei schon mal gut und berechtigt, aber zu einer Starreklame gehöreauch eine Stargage! Bis dahin stimmen die Erzählungen überein. Uneins sind sich die Berichte jedoch darüber, was es genau bedeutete, dass er für seinen sofortigen Engagements-Antritt im "Wintergarten" die Höchstgage für einen Salonhumoristen bekommen habe. 3.000 Mark? 4.000 Mark? 6.000 Mark? Monatsgage! Reutter habe verlangt - und bekommen, bescheiden, nur was er kriegt.

Später erzählte Reutter gern, dass sein allererster Auftritt im "Wintergarten" gleich ein Auftrittsverbot nach sich gezogen habe. Beim Marsch auf die Polizeibehörde zur Genehmigung des Repertoires habe er den Text seiner Parodie auf Gerhart Hauptmanns "Versunkene Glocke" vergessen. Als er die Parodie dann vortrug, habe "S.M." (Seine Majestät), der Aufpasser der Zensurbehörde im Saal, bemerkt, dass Reutter einen nicht genehmigten Text vorgetragen habe, und dies sei dann sofort reklamiert worden. Einen Tag Auftrittsverbor, Strafe muss sein ... Jedenfalls hörte Reutter damals, 1900, sein nach "Höchstgage" zweites Lieblingswort: "Prolongierung". Für mehrere Monate. Das ging sogar, er hatte für diese Zeit keine bindenden Anschluss-Engagement. Und am Ende seines ersten "Wintergarten" - Engagements hörte er sein drittes Lieblingswort "Re-Vertrag": Kommen sie wieder, Herr Reutter, sie haben uns gefallen, sie haben uns Geld in die Kasse gebracht, sie sind ein Kassenschlager.

Reutter ist Geld wert - mindestens fünf Pfennige (1921)

Seine Vaterstadt Gardelegen habe den berühmtesten Sohn, Otto Reutter, so sehr geschätzt, dass sie ihm in der Inflationszeit sogar Geldscheine gewidmet habe, um ihn zu ehren. Sow ar es zu lesen, später. Aber weder Inflation noch besondere Wertschätzung waren es, die 1921 in Gardelegen den Kaufmännischen Verein zu Gardelegen zur herausgabe von papieren Wechselgeld-Scheinen mit Reutterporträts und Sprüchen des Meisters inspirierten. Wegen der vermehrten Rohstoffausfuhren in Folge des Versailler Vertrages war es in ganz Deutschland zur Knappheit an Buntmetall für die Herstellung von republikanischen Wechselgeld-Münzen gekommen, also machte man aus Lumpen Papierscheine fürs kleine Wechselgeld: 5 Pfennig, 10 Pfennig, 25 Pfennig, 50 Pfennig. Überall in Deutschland entstand dieses örtlich gültige Notgeld, folglich auch in Gardelegen. In Ermangelung von brauchbaren Alternativen trat der Vorstand des Kaufmännischen Vereins zu Gardelegen Anfang 1921 an Otto Reutter heran, ob er nicht eine zündende Idee habe, was auf die Gardelegener Scheine "draufkönne".Dieser, Schnelligkeit gewöhnt, entwarf also die Gardelegener Notgeldscheine, mit ganz viel Otto Reutter drauf. So entstand das Reuttergeld in Gardelegen. Es wird dem Schelm eine witzige Erinnerung wert gewesen sein, dass er 1884 von den Mitgliedern dieses ehrenwerten Kaufmännischen Vereins keiner Lehrstelle für würdig befunden worden war.

Als das Notgeld 1923 wie alle anderen örtlichen Notgeldscheine in ganz Deutschland für wertlos erklärt wurde, da reiste Reutter persönlich in Gardelegen an, ging durch die Stadt und griff in die Ladenkassen. Sozusagen, bildlich gesprochen. Er sammelte die 5-Pfennig-Scheine, die 10-Pfennig-Scheine und die 25-Pfennig-Scheine ein, denn sie waren mit "prima" Abbildern seines Kopfes verziert. Er wolle sie als "Andenken", und die Ladenbesitzer fühlten sich geehrt. Ansonsten waren nun ganz andere Summen auf den Scheinen oder Aufklebern verzeichnet, Tausend, Millionen, Miliarden ... Reutter trug fortan bis an sein Lebensende immer einen Packen dieser notgeldscheine mit sich herum und nutzte diese als billige Autogrammkarten, viel billiger als die sonst nötigen Porträtfotokarten, viel "reuttiger", viel origineller.


Aus dem Gardelegener "Sommergarten" in den Berliner "Wintergarten" (1925)

Die kaiserliche Familie ließ den Kontajt mit Otto Reutter, dem glühenen Bismarckverehrer und Bewunderer der guten alten Zeit, nicht abreißen. Prinz Adalbert von Preußen lud ihn im Jahre 1924 zu einer privaten Soiree auf seinen Sitz Adelheitswert bei Bad Homburg ein. Weil Reutters metaphernreiches Couplet "In der Einsamkeit" besonders zugesagte, schenkte ihm Prinz Adalbert eine Bronzeschnecke.

Es kam in jenen Jahren ja ständig etwas Neues auf, und ab und an auch mal was Erfreuliches: Rundfunk. Reutter sah seine ChanceWarum sollte er nicht die Möglichkeitnutzen, um auch im Rundfunk berühmt zu werden? Auf diese Weise könnte er ein größeres Publikum auf sich aufmerksam machen und bekäme kostenlose Reklame. Im August 1925 brillierte er in wahrlich glänzender, unübertrefflicher Manier im Programm der Berliner Rundfunksendestelle. Im Sommer 1925 hatte ihn das Angebot, für 1.000 Mark Tagesgage einen einzigen Auftritt zu absolvieren, ins Ostbrandenburgische, nach Landsberg an der Warthe gelockt. Im September 1925 begeisterte er das Publikum in Halle an der Saale, in dem auch seinerzeit schon berühmten "Steintor-Varieté".

Und dann, und dann: Für Ende 1925 bekam er wieder ein Angebot des Berliner "Wintergartens", seines "Wintergartens". Endlich Vielleicht war der ausschlaggebende grund für die EInladung zunächst, dass Reutter und der "Wintergarten" ein Jubiläum feiern konnten. Vor 25 Jahren war er erstmals im "Wintergarten"aufgetreten. Vor 25 Jahren. Naja, nicht genau, aber so ungefähr, wen kümmerte schon das Genaue in diesen temporeichen und überaus vergesslichen Zeiten? Den Jubiläumskranz mit der großen "25" ließ sich er jedenfalls nicht entgehen. Reutter gastierte mit einem vollständig erneuerten Repertoire. Es wurde ein glanzvoller Triumph, die Rezensenten überschlugen sich im Lobe. Sein bei vielen Auftritten in der Varietéprovinz erprobtes neues Bühnenprogramm kann nun auch in der wildbewegten europäischen Kulturhauptstadt Berlin sehr gut an. Reutter fand hier sein Publikum wieder. Nachdem die Bangigkeit des Premierenabends verflogen und im stürmischen Applaus des Publikums wie weggeblasen war, fühlte sich Reutter sauwohl. Das hörte sich ja alles endlich wieder so an wie in den guten alten Zeiten vor fünfundzwanzig Jahren. 

Alle seriösen Blätter der deutschen Hauptstadt schickten ihre Kritiker in den "Wintergarten" zum "neuen Reutter" und alle berichteten nur Gutes. Aber sie erlebten auch einen Reutter, der erheblich an Leibesfülle zugenommen hatte. Reutter sah nicht mehr wie der leicht füllige Mann in den besten Jahren aus, er war nun ein Koloss, ein korpulenter älterer Herr. Der "kleine Dicke aus Gardelegen" hatten bisweilen schon Mühe, noch allzeit behänd und agil zu wirken. Seine erste Wiederverpfichtung im "Wintergarten" wurde als "Rückkehr Otto Reutters" nach Berlin, gar ans Varieté, publizitisch gefeiert. Pünktlich erschien unter dem Titel "... aber Sie schmunzeln so verdächtig!" ein langer Zeitungsbeilagenaufsatz über den erfolgreichen Humoristen. "Zu Besich bei Otto Reutter" fand sich angeblich kein Geringerer als Peter Sachse ein, seinerzeit im Berlin der 1920er-Jahre der Hansdampf in allen Gassen, der Strippenzieher, der Kenner, das Ass der Asse der lokalen Unterhaltungsmaschinerie. Der Artikel geriet Zeile für Zeile zu einer unvergifteten Lobeshymne auf den großen Könner Otto Reutter.

Dreißig Jahre zuvor galt Reutter als Erneuerer, gar als Erfinder des anspruchsvollen deutschsprachigen Witzgesang, des Salonhumors. Nun wurde er von ahnungslosen, kenntnisfreien Machern und "Zeitungsschreibern" wie ein erstaunlicherweise noch lebendes Fossil längst verflossener Zeiten und Unterhaltungsformen behandelt. Symptomatisch dafür ist eine Besprechung seines Gastspiels in den Essener "Arkadia-Künstlerspielen" im Mai 1924:

"Silberweiß wurde sein volles Haar, aber sein fröhliches Antlitz strahlt in seltener Jugendfrische. Wie fein, wie diskret sich der ältere Otto Reutter einzustellen weiß [...] was Können, Geist und Humor anbelangt, steht dieser gottbegnadete Künstler noch immer auf der Höhe des Schaffens. [...]Der Philosoph hinter der Maske des Humoristen. Strophe für Strophe fließt dahin, geschliffener Humor, verblüffender Witz, und alles gefeilt bis ins Kleinste. [...] So geht das fast eine Stunde. [...] Was waren das,w as sind das heute noch für Größen, die Humoristen vom Schlage des Otto Reutter. Angesichts solcher Leistungen kommt uns erst die geistige Verarmung des jüngeren und jüngsten Deutschlands so recht zum Bewusstsein. Wie geistig produktiv waren doch die Humoristen zur Jahrundertwende und noch viele Jahre später. Ihre fröhlichen, feinpoitierten Zeitgesänge schmückten dutzendweise die Schaufenster der Buch- und Musikalienhandlungen. Heutzutage werden dort Jimmy, jazz und Foxtrott mit zotigen Textunterlagen ausgestellt. Wenn man sie hört, möchte man weinen. Können uns die Fabrikanten dieser modernen Erzeugnisse jenes befreiende Lachen auslösen, können sie uns mit solchem echt deutschen Humor und mit seinem volkstümlichen Mutterwitz über die Not unserer Zeit helfen wie die Dichter-Sänger alten Schlages, wie Otto Reutte. Nein, dazu sind diese geistig armen Modernen nicht fähig. [...] Wie echte Schmutzfinken können sie uns daran erinnern, dass viel Morast liegt am Wege unserer Zeit, nicht aber können sie uns lachend herausreißen mit fröhlichem Humor aus Dumpfheit und Niedergeschlagenheit, dass wir lachend über den Dingen des Alltags schweben. Das aber kann Otto Reutter".

Einer jener Männer, die die "Schmutzfinken der Moderne" anstellten und förderten, war übrigens der eifrige Berliner Kabarettgrüner Peter Sachse, in dessenlegendär gewordenem Kabarett-Restaurant "Weiße Maus" in der Berliner Behrenstraße damals die zum ewigen Symbol der ausgeflippten Verworfenheit der 1920er jahre gewordene Ausdruckstänzerin Anita berber ebenso legendär der Skandal auf und an der Bühne inzenieren durfte. Peter Sachse, der in berlin zeitweise bis zu zwölf Kabaretts parallel betrieb, besaß allein in derJägerstraße zwei Kabaretts, in denen des Nachts das Licht die "Schmutzfinken" anstrahlte. Als besonders erfolgreicher und geeigneter Darsteller des Obszönen und Originären mauserte sich ein Wilhelm Bendow, der sich beispielsweise, mit entsprechenden Schildern versehen, auf die Bühne stellte und näselte: "Wilder Mann von vorne, wilde Frau von hinten." Und das war noch das Harmlosere. Als kleiner, aber immer größer werdender Sensationsdarsteller erntete Hans Albers ersten Ruhm - in der Komischen Opfer sprang er in jeder Vorstellung von einem Kronleuchter in ein Wasserbassin und tauchte gefühlte drei Minuten später trocken, geschniegelt und gebügelt wirde auf der Bühne auf - Berliner Tempo.

Ja, Reutter wirkte gediegen, alt und antik, auf die Sensationshungrigen sogar antiquiert und überlebt. Aber Reutter fand noch immer sein Publikum, das ihm zujubeln wollte, weil er genau das vortrug, was er vortrug. Anlässlich seiner wundersamen Wiederauferstehung im "Wintergarten" 1925 kramte Reutter in seinen Erinnerungen und fand aus seinen Anfangsjahren folgendes hervorhebenswert: "Viel Erfindungskraft hatten die Direktoren nicht. Weil in Berlin ein Apollotheater als Varieté Erfolg hatte - obwohl gar nicht einzusehen ist, was Apollo mit dem Varieté zu tun hat - gründete man auch in Dresden, Nürnberg, Düsseldorf, Wien Apollotheater-Varientés. In Dresden, wo der Victoria-Salon lange Zeit das fphrende Varieté gewesen war, erstand ein Centraltheater. Sofort  erhielten auch die neuen Varietés in Leipzig, Chemnitz, Magdeburg, Liegnitz den Name "Cedntraltheater", spottete Reutter. In vielen war er gegen Höchstgagen aufgetreten, in manchen sogar als Hauptattraktion des Eröffnungsprogramms. Früher, in der guten alten Zeit.

Ich bin wieder ein Berliner! (1929)

1929 trafen die Eheleute Reutter eine endgültige Entscheidung, sie gaben die Villa Waldschnibbe in Gardelegen auf. Alleiniger Wohnsitz war nun wieder Berlin-Wilmersdorf. Die beiden zogen also vom abegelegenen Gardelegen mit Sack und Pack zurück ins Zentrum des Geschehens, nach Berlin. Mehr als zwei Dutzend große Uzugskisten mit Werken und Unterlagen seiner langen Karriere, Reutter hatte über die Jahre eifrig gesammelt, wurden in Gardelegen gepackt und fanden nun ihren Platz in einem Speicher irgendwo im großen Berlin. Ungeöffnet und künftig unbeachtet, schließlich, wie so vieles in Berlon, wohl auf immer verloren. Schon 1929 verbrannte in gardelegen ein Zeil seiner gesammelten Werke, weil Reutter es so wollte. In den frühen 1940er-Jahren brannte dann in Berlin auch der Speicher mit den reutterschen Kisten ab.

Seinen ewigen Ruf als bestbezahlter Humorist auf deutschen Varientébühnen hatte Reutter zwar noch, aber er stimmte gar nicht mehr. Reutter gestand einmal: Was in der zeitung darüber stehe, stimme nur zur Hälfte, höchstens, und das Geld sei heutzutage auch nur noch die Hälfte wert, höchstens ... beides ärgert ihn. Der Clown Grock bekam pro Monat in der Berliner Scala 45.000 Mark Monatsgage. Nun gut, Grock war kein deutscher Humorist. Aber: Erich Carow, Berlins bekanntester und beliebtester Volkskomiker, ließ suich an der "Scala" für genau jene grocksche Supergage von 45.000 Mark verpflichten. Vermittler war Peter Sachse. Soviel gage wollte niemand mehr für Otto Reutter zahlen, da dachte keiner dran, nicht einer der vielen "Jrööößenwaahnsinnijen" und "Bekloppten", die nun in Berlin wegen steigender Arbeitslosenzahlen, allgemeiner Verarmung und sinkender Besucherzahln im Strudel der krise und nur absolute "Zugpferde" bekamen noch ausreichend "Hafer".

Und preisen dich die Kollegen (1931)

Kronprinz Wilhelm telegrafierte der Witwe, er werde ihrem Mann "als Künstler und Mensch ein treues und dankbares Erinnern" bewahren.Die Königlichen Hoheiten Prinz und Prinzessin Adalbert von Preußen sandten Evi Reutter als letzten Gruß einen Kranz von den Bäumen des Parks Adelheitswert, in Erinnerung an die "durch die große Kunst Ihres Gatten bereiteten unvergesslichen Stunden". Am 15. März 1931 veranstaltete die Internationale Artistenloge im Berliner "Wintergarten" mittags eine groß aufgezogene Gedächtnisfeier für Otto Reutter. Man ließ durchblicken, Reutter habe sich bei der Gedenkveranstaltung für Robert Steidl 1927 geäußert: Ob man wohl auch für mich eine Gedächtnisfeier abhalten wird? Also tat man es. Die Künstlervereinigung lud alle gegenwärtig erfolgreichen Humoristen der Berliner Bühnen nachdrücklich ein, Reutters Dichtungen in einer großen öffentlichen Veranstaltung gemeinsam vorzutragen. Diese war nach der ersten Ankündigung sehr schnell ausverkauft.

Prominente Vertreter des Berliner Humors traten dann mit Reutters Texten deklamierend vors Publikum: Willi Schaeffers, Erich Carow, Georg Tucher, Peter Sachse, Hugo Fischer-Köppe, William Berner, Schorsch Ruselli, Paul Westermeier und Alfred Stein. Sie waren, wie gesagt, von ihrer Internationalen Artistenloge ausdrücklich zur Mitwirkung aufgefordert worden, deswegen entschuldigten sich Paul Graetz, hermann Vallentin und Max Ehrlich auch ebenso ausdrücklich als dienstlich verhindert, weil außerhalb Berlins engagiert. Paul Heidemann hatte auf die "Aufforderung zur mitwirkung nicht reagiert - hier war ja auch keine Prominentengage zu verdienen", wie die Presse bemerkte. Für die Veranstaltung gab es ein gedrucktes Programm. Die Namen aller Künstler, die am festakt mitwirken sollten, waren in großen Lettern aufgeführt. So kam es, dass auch Hans Albers, Siegfried Berisch, Curt Fuß, Peter Pfeiffer und Victor Schwannecke später den nachruhm genießen könnten, einst Mitwirkende der großen Otto-Reutter-gedächtnisfeier gewesen zu sein, obwohl sie gar nicht erschienen waren, nicht einmal im Publikum. Sie hatten an diesem Sonntagsnachmittag wohl noch Wichtigeres zu tun.

Am 20. März 1931 wurde bekannt, dass Otto Reutter Barmittel in Höhe von etwa 500.000 Mark hinterlassen habe. Bis auf drei besondere Legate in Höhe von jeweils 10.000 Mark erbte alles seine Witwe. Es sei erwähnt, weil Reutter stets Wert auf seine finanzielle Wertschätzung gelegt hatte und weil viele ein völlig anderes Testament erwartet hatten. Die Stadt Gardelegen wurde von Reutter entgegen anderslautender Erwartungen zum Beispiel mit keinem einzigen Pfennig bedacht. Und Gardelegens Stadtväter sollen nicht die einzigen gewesen sein, die "ne janz lange Neese ziehen" mussten. Im Spätherbst 1931 wurden die Arbeiten an der reutterschen Grabstätte auf dem Gardelegener Friedof beendet. Sie wurde nach Plänen der Witwe Evi Reutter-Bendrin gestaltet un erhielt seltsamerweise nicht die Form eines Familiengrabes. Reutter lag allein, und das sollte offentsichtlich auch so bleiben.

Noch viele Jahre später war in Gardelegen davon die Rede, dass es Reutters Wunsch gewesen sei, im Grabe seinen 1916 gefallenen Sohn neben sich zu haben. Unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit erfuhr Mitte der 1930- Jahreeine seinerzeit bekannte Gardelegener Familie von der Friedhofsverwaltung, ihre neuerworbene Familiengrabstelle wäre die erste grabstelle von Otto Reutter gewesen, und erst nach Beendigung der aufwendigen Bauarbeiten für den griechischen Tempel sei Reutter in seine nun bekannte Grabstätte zur wahrlich letzten Ruhe gebettet worden. Ohne jegliches Aufsehen. Aber viellicht war das, wie so vieles vonund über Otto Reutter, auch "einfach nur gelogen".


Und preist man dich "ewig unerreicht" -
Zehn Jahre später: dein Ruhm erbleicht.
In zwanzig: kaum Hundert loben dich -
In dreißig: ein Dutzend erinnert sich.
Dann nennen noch Dreie dich oder Zwei-
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei.
[...]
Nur einmal blüht im Jahre der Mai,
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei.
Du Rindvieh, dann ist es vorbei!